Jahrzehntelang befanden sich Kreuzfahrtschiffsindustrie und –tourismus auf einem einmaligen Erfolgskurs. 2019 waren nach Angaben der Cruise Lines International Association (CLIA) nicht weniger als 272 Vergnügungsdampfer verschiedener Größen weltweit im Einsatz, weitere 18 waren im Bau. Waren Kreuzfahrten einst eine mondäne und elitäre Art des Reisens für die oberen Zehntausend, wurden sie im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte zu einem Massengeschäft – plötzlich konnte sich praktisch jeder einen Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff leisten.
Der Boom bescherte Reedereien und Werften jährliche Zuwächse im zweistelligen Bereich. Schon 2018 urlaubten laut CLIA 28,5 Mill. Menschen auf hunderten Kreuzfahrtschiffen mit insgesamt etwa 400.000 Betten, davon 2,23 Mill. deutsche und 145.000 österreichische Touristen. Mit etwa 1,1 Mill. Mitarbeitern wurde in dem betreffenden Jahr ein Umsatz von 120 Mrd. Euro erzielt. Angestrebt wurde eine Zahl von 32 Mill. Passagieren für das Jahr 2020, diese Zahl versuchte man durch den Bau immer größerer „schwimmender Hotelpaläste“ zu erreichen. In kaum einer anderen Freizeitbranche waren bzw. sind mehr Menschen aus allen Nationen beieinander als auf Hochseeschiffen, wo sie eine 24-Stunden-Bespaßung genossen bzw. genießen.
Doch dann kam zur Jahreswende 2019/2020 das Corona-Virus und entwickelte sich zu einer Pandemie mit nach wie vor steigenden Zahlen von Infizierten in vielen Ländern, so dass das Geschäft ins Bodenlose stürzte. Laut EU-Schätzungen ging der Umsatz bis zu 90 Prozent und die Aktienkurse bis zu 75 Prozent zurück. Wie sehr der Branche das Wasser bis zum Hals steht, lässt sich an den Aktien der Marktführer CARNIVAL, ROYAL CARIBBEAN und NORWEGIAN CRUISE LINE ablesen, deren Kurse seit Jahresbeginn 2020 um 65 bis75 Prozent gefallen sind, was die Börsenwerte um viele Milliarden USD einbrechen und die Skepsis vieler Anleger in die Höhe treiben ließ. Allein CARNIVAL schrieb im zweiten Quartal 2020 einen Verlust von 4,4 Mrd. USD (3,9 Mrd. Euro), nicht viel anders ist es bei der Konkurrenz.
Dazu kommt, dass die Pandemie die Konzerne auch anderweitig getroffen hat. Weil durch die weltweiten Lockdown-Maßnahmen das Geschäft so gut wie zum Erliegen kam, standen hohen Fixkosten plötzlich keine Einnahmen mehr gegenüber. Andere Probleme kamen dazu: wegen der Virusinfektionen, zuerst an Bord der DIAMOND PRINCESS (3700 Gäste; 700 Infizierte und zehn Tote) und dann anderer Schiffe wie der MS WESTERDAM wurden diese in Häfen in Quarantäne festgehalten oder mussten auf der Suche nach Anlegemöglichkeiten wochenlang auf hoher See herumirren. Tausende Crew-Mitglieder konnten nicht von Bord der Dampfer gehen oder in ihre Heimatländer zurückkehren.
Die jüngste Hiobsbotschaft: Nach dem Corona-Ausbruch auf dem Kreuzfahrtschiff ROALD AMUNDSEN der norwegischen Reederei HURTIGROUTEN (36 Crew-Mitglieder infiziert, alle 380 Passagiere, darunter mehrere positiv auf das Virus getestete, mussten für zehn Tage in Quarantäne), sitzt dieses im nordnorwegischen Hafen Tromsö fest. Einen Stopp gab es auch für die Schiffe FRIDTJOF NANSEN und SPITSBERGEN, nur die Hurtigrouten-Schiffe zwischen Bergen und Kirkenes verkehren vorläufig weiter.
Aber der Ruf der Branche ist schon seit Jahren angeschlagen. Während an Deck eitel Wonne herrschte bzw. herrscht, reichen die Vorwürfe von Steuer- und Umweltsünden bis zur Ausbeutung von Crew-Mitgliedern aus Niedriglohnländern und zu mangelnden Sicherheitsvorkehrungen. Für viele sind Kreuzfahrtschiffe auch gigantische Stinker und Dreckschleuder, die vom Meer aus, die Luft verpesten. Denn nach wie vor fahren die bis zu 400 m langen und bis zu 200.000 t schweren Schiffe mit Schweröl, einem Abfallprodukt von Raffinerien. Um Treibhausemissionen zu senken, sollte jeder Bürger pro Jahr nicht mehr als 2,3 t CO2 Ausstoß verursachen. Mit neun Tagen auf einem Kreuzfahrtschiff wird dieser Wert erreicht.
Ein Ozeanriese stößt pro Tag 476 to CO2 (entspricht 83.000 PKW!), 7,5 to SO2 (376 Mill. PKW!), 5,2 to Stickoxyde (421.000 PKW!) und 0,45 to Feinstaub (eine Mill. PKW) aus. Und so kann man sich ausmalen, was die größten unter ihnen produzieren. Der Bau des größten Kreuzfahrtschiffes der Welt, der SYMPHONY OF THE SEAS von der Reederei ROYAL CARIBBEAN (361 m lang, 65 m breit, 228.000 to schwer, Tiefgang 9,3 m) kostete die stattliche Summe von 1,17 Mrd. Euro. 2.200 Mann Besatzung kümmern sich um bis zu 6.600 Passagieren.
Immerhin gibt es in puncto Umwelt ein wenig Bewegung. Zwei von 76 Passagierschiffen, die in deutsche Häfen einlaufen, nutzen Erdgas als Kraftstoff, was tatsächlich den CO2-Ausstoß um etwa 20 Prozent sinken lässt. Doch Erdgas wird in den USA durch das umstrittene Fracking aus tiefen Erdschichten gefördert und belastet so die Umwelt bei der Produktion zusätzlich. Anstatt in Häfen saubere, aber teurere Landstromanlagen zu nutzen, lassen viele Schiffe ihre Diesel betriebenen Stromerzeuger auch in den Häfen weiterlaufen.
Die Hauptanlegehäfen in Europa sind Venedig (2019 600 Schiffe, die 1,5 Mill. Passagiere in die Lagunenstadt brachten), Palma de Mallorca, Amsterdam und Barcelona, die jetzt aber alle Kreuzfahrer zur Kassa bitten. Im kroatischen Dubrovnik dürfen nur zwei Schiffe pro Tag anlegen. Die genannten Städte leiden unter den Massen an Kreuzfahrttouristen, die zwar Euros an Umsatz bringen, aber die Gassen um die Sehenswürdigkeiten verstopfen und Müllberge hinterlassen.
Nach Ansicht von Reisebürochefs wird sich die ganze Branche „vollkommen neu erfinden müssen“. Ein Insider von der Großbranche John Pierpont Morgan meinte, dass trotz der derzeit negativen Entwicklung die Kreuzfahrtindustrie nicht abgeschrieben werden sollte. Die Nachfrage sei weiterhin groß, besonders die Kundschaft in den von der Pandemie besonders hart getroffenen USA sei überraschend risikobereit. Allerdings müssten zunächst die Hafenarbeiter überzeugt werden. Niemand lasse gerne Passagiere von „Risikoschiffen“ an Land, besonders, wenn sie zuvor in Ländern mit steigenden Corona-Zahlen angelegt hätten. Dazu komme, dass ein Schiff nur dann profitabel ablegen könne, wenn ein paar Tausend Passagiere an Bord seien.
Sollte es wieder „los gehen“, werden die Reedereien zunächst mit ausgefallenen Hygienekonzepten werben, dann aber mit neuen und spektakulären Attraktionen auf sich aufmerksam machen, um die „Spaßgesellschaft“ bloß nicht zu kurz kommen zu lassen. Letzter Schrei sind hier Achterbahnen auf hoher See. Eine in einem Gewerbegebiet von Güstrow (Mecklenburg-Vorpommern) parkende etwa 300 m lange Achterbahn soll noch im Laufe des Spätsommers auf das Kreuzfahrtschiff GLOBAL DREAM „umziehen“. Es geht darum, dass Passagiere an Bord alles sollen, „nur sich nicht langweilen“. Es handelt sich um die zweite Achterbahn dieser Art, die erste wurde bereits auf das Deck des Schiffes MARDI GRAS der US-Reederei CARNIVAL gesetzt. Für den Bau beider Achterbahnen war ein deutsches Ingenieurbüro in München verantwortlich, für das die beiden Aufträge in diesen Zeiten einen echten Glücksfall darstellten.