Nach fast 40 Jahren endete 1995 der Dienst des Postschiffes RAGNVALD JARL auf der Hurtigrute. Es folgten 24 weitere Jahre als schwimmendes Schulschiff, ehe 2019 die Außerdienststellung des Schiffes beschlossen wurde. Die Schneidbrenner winkten, doch dann kam alles anders.
16 neue Postschiffe ließen die Reedereien der Hurtigrute zwischen 1949 und 1964 bauen, nachdem im Zweiten Weltkrieg ein Großteil der Vorkriegstonnage vernichtet worden war. Die meisten von ihnen blieben bis in die 1980er Jahre hinein in Dienst, die letzten bis weit in die 1990er Jahre; die 1964 gebaute LOFOTEN fährt sogar noch immer (wahrscheinlich in ihrer letzten Saison). Die Karrieren dieser Schiffe nach ihrer Außerdienststellung waren in den meisten Fällen jedoch unstet. Für längere Kreuzfahrten waren die alten Postschiffe kaum zu gebrauchen – zu klein die Kabinen, zu gering die Auswahl an öffentlichen Räumen und zu spartanisch mitunter deren Einrichtung. Auch aus der RAGNVALD JARL wurde nach ihrem Ende im innernorwegischen Verkehr kein Kreuzfahrer; stattdessen wurde das 1956
gebaute Schiff im September 1995 an die Rogaland Sjøaspirantskole in Stavanger verkauft. Umbenannt in GANN, kam es in der Folge als Schulschiff zum Einsatz, nur noch gelegentlich waren zwecks Aufbesserung der „Klassenkasse“ einzelne kürzere Fahrten für zahlende Passagiere im Programm.
Anfang 2007 übernahm die Rogaland Sjøaspirantskole ein neues Schulschiff (mit der NARVIK übrigens ein weiteres, wenn auch moderneres ehemaliges Hurtigrutenschiff), die alte GANN konnte man jedoch an eine andere norwegische Seemannsschule verkaufen, die Sørlandets Maritime Vidergående Skole in Kristiansand. Diese gab der alten RAGNVALD JARL den Namen SJØKURS, seine Rolle als schwimmendes Ausbildungsobjekt behielt das Schiff jedoch. In der Regel verließ die SJØKURS dabei nicht die norwegischen Gewässer, zu besonderen Anlässen wie dem Hamburger Hafengeburtstag bekam man das Schiff jedoch auch schon mal an Nord- und Ostseeküste zu sehen. Im Januar 2019 wurde jedoch das Ende der SJØKURS als Schulschiff beschlossen. Eine bauliche Anpassung an die neuesten Vorschriften lag außerhalb des Budgets der Bildungseinrichtung, so dass die SJØKURS zunächst beschäftigungslos in Kristiansand aufgelegt wurde.
Am 05.03.2020 kam dann jedoch die überraschende Nachricht, dass die Reederei Vestland Marine das Schiff gekauft habe. Die Reederei hat ihren Sitz in Gdynia und betreibt vor allem Offshore-Versorger, ihre Wurzeln liegen aber bei der 1997 gegründeten norwegischen Vestland Rederi. Darüber hinaus besitzt Vestland die Kreuzfahrt-Tochter Vestland Classic Cruises mit den beiden Schiffen NORDSTJERNEN und SJØVEIEN. Erstere ist ein weiteres ehemaliges Hurtigrutenschiff, das Vestland 2013 aufwendig renoviert hatte, um es wieder für Seereisen mit zahlendem Publikum einzusetzen. Zunächst nur auf innernorwegischen Reisen, seit 2017 jedoch auch im Rahmen internationaler Fahrten. Die NORDSTJERNEN hat aufgrund ihrer langen Dienstzeit für Hurtigruten und der Tatsache, dass sie in Deutschland gebaut wurde, vor allem hierzulande viele Anhänger, so dass der deutsche Agent „Nostalgische Postschiffreisen“ in Nürnberg für sie Kreuzfahrten ab Lübeck ins Programm nahm. Darüber hinaus war das Schiff zuletzt regelmäßig in den Sommermonaten für seinen alten Arbeitergeber auf Expeditionskreuzfahrt im Spitzbergen-Archipel unterwegs, für die Hurtigruten die NORDSTJERNEN auf saisonaler Basis charterte.
Die SJØKURS hingegen trat unmittelbar nach ihrem Verkauf an Vestland Marine am 06.03. ihre Schleppreise nach Gdansk an, wo sie wie schon die NORDSTJERNEN ebenfalls renoviert und für Kreuzfahrten instand gesetzt werden soll. Laut AIS trägt das Schiff auch schon wieder seinen alten Namen RAGNVALD JARL; auch seinen alten Heimathafen Trondheim soll der Hurtigruten-Veteran zurückbekommen. Ein Zeitrahmen für den Umbau hat Vestland allerdings nicht genannt; auch nicht, wann und auf welchen Routen das Schiff eingesetzt werden soll. Denkbar ist sogar, dass die RAGNVALD JARL erneut im Rahmen der Hurtigrute zum Einsatz kommt. Allerdings nicht für den aktuellen Betreiber Hurtigruten Group selber, sondern für Havila Kystruten. Letzterer teilt sich die Konzession für die traditionsreiche Schiffsverbindung entlang der norwegischen Küste (Bergen – Kirkenes) ab 2021 mit Hurtigruten, wird jedoch aufgrund eines Lieferverzugs für zwei von vier bestellten Neubauten im Januar 2021 zunächst nur zwei Schiffe zur Verfügung haben. Berichten zufolge arbeitet Havila daher aktuell fieberhaft an einer Übergangslösung – da wären in der aufkommensschwachen Nebensaison Schiffe wie die NORDSTJERNEN und die RAGNVALD JARL ideal, auch wenn sie nicht sämtliche Auflagen erfüllen, die Hurtigruten und Havila im Rahmen der neuen Konzession auferlegt worden sind. Bekannt und beliebt sind die Schiffe allemal, und es wäre ja nur für eine kurze Übergangsfrist. Danach dürften wir die RAGNVALD JARL wieder öfter auch an der deutschen Küste zu sehen bekommen. Schließlich war sie bereits als SJØKURS mehrmals zu Gast im Hamburger Hafen, zu dem das Schiff eine besondere Verbindung hat: Hier ist die RAGNVALD JARL 1956 auf der Werft Blohm & Voss gebaut worden, genauso wie die NORDSTJERNEN (und ein drittes Schiff, die FINNMARKEN, die als Museumsschiff in Stokmarknes liegt). Im Übrigen dient die NORDSTJERNEN selbst das ganze Jahr 2020 über als Wohnschiff für Arbeiter auf der Fosen-Werft, wo Hurtigruten gegenwärtig seine 2002/03 gebauten FINNMARKEN, TROLLFJORD und MIDNATSOL zu den Expeditionskreuzfahrtschiffen OTTO SVERDRUP, MAUD und EIRIK RAUDE umbauen lässt. Gut möglich also, dass die RAGNVALD JARL eher früher als später wieder in Fahrt kommt, um bei Vestland Classic Cruises den Platz der NORDSTJERNEN einzunehmen. Liebhaber nostalgischer Postschiffreisen dürfte es freuen.
Technische Daten MS SJØKURS:
Größe: 2.191 BRZ
Länge: 81,24 Meter
Breite: 12,65 Meter
Tiefgang: 4,51 Meter
Decks: 5
Baujahr: 1956
Ex-Namen: RAGNVALD JARL -1995, GANN -2007, SJØKURS -2020
Bauwerft: Blohm & Voss, Hamburg
Antrieb: 1 10-Zylinder 2T EV DM G 10V 52/74A Burmeister & Wain
Leistung: 2.170 kW
Geschwindigkeit: 16,9 Knoten
Flagge : Norwegen
Heimathafen: Kristiansand
Besatzung: 20
Passagiere: 410 (ursprünglich 585)
Betten : 144 (ursprünglich 205)