Das Meer hat keinen Standstreifen

Die HERMANN MARWEDE an ihrem Liegeplatz auf Helgoland.
Die HERMANN MARWEDE an ihrem Liegeplatz auf Helgoland. © Pospiech

Wer vor der deutschen Küste in Not gerät, kann sich auf die Leute von der DGzRS (Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger) und ihre modernen Kreuzer verlassen. Wir sollten das aber nie als Selbstverständlichkeit verstehen – denn für die Seenotretter ist es oft ein Einsatz, bei dem sie an ihre Grenzen gehen. Und manchmal auch darüber hinaus.

Dezember 1873, ein schwerer Sturm zieht über die Ostsee. Vor der Küste von Warnemünde ist ein dänisches Segelschiff in Seenot geraten und gestrandet. Vormann Stephan Jantzen kann das Wrack sehen, das etwa 200 Meter vor der Küste liegt und doch unerreichbar weit entfernt zu sein scheint. Er möchte hinrudern, um die Besatzung zu retten, die sich in höchster Gefahr befindet. Die Brandung zerschlägt das Schiff, Stunde um Stunde.

Es ist schon schwierig gewesen, die Pferde für das Gespann zusammenzubekommen, um das Rettungsboot an den Strand zu bringen; die Besitzer haben Angst um ihre Tiere, so schlimm wütet der Wind. Jetzt steht Jantzen endlich am Strand, seine Leute haben ihr Ölzeug angelegt und die obligatorischen Schwimmwesten aus Kork. Doch nun streiken sie. Sie starren hinaus auf die kochende See und weigern sich standhaft, ins offene Boot zu steigen. „Das ist doch aussichtslos!“, sagen sie. „Wie sollen wir denn durch diese Brecher kommen? In der Finsternis!“.

Jantzen willigt ein, bis Tagesanbruch zu warten. Er lässt ein Feuer anzünden, damit die Schiffbrüchigen wenigstens sehen können, dass man von ihrem Schicksal weiß. Als der neue Tag anbricht, tobt der Sturm mit unverminderter Heftigkeit. Zwei Menschen kann Jantzen an Deck erkennen, sie haben sich offenbar an den Stumpf des gebrochenen Mastes gebunden, um nicht von den Sturzseen mitgerissen zu werden. Jantzen fordert die Männer auf, nun mit der Rettungsaktion zu beginnen. Doch sie bleiben bei ihrem „Nein“. „Ein Himmelfahrtskommando, jetzt da rauszurudern“, meint einer. Sie versuchen, mit dem Leinenschussgerät eine Verbindung zum Havaristen herzustellen. Die Rettungsaktion misslingt. Jantzen redet auf seine Männer ein, er beschwört sie – und schließlich willigen sie ein. Vier Mal pullen sie mit aller Kraft gegen die Brecher an, vier Mal kehren sie erschöpft an den Strand zurück.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung wagen es die Leute von der DGzRS ein weiteres Mal. In einem Wellental schlägt das Boot so heftig auf, dass Jantzen von der Pinne am Kopf getroffen wird. Kurz wird ihm schwarz vor Augen, aber er hält durch, muss er auch, es ist die letzte Chance, Leben zu retten. Und tatsächlich, dieses Mal schaffen sie es, die Brandung zu überwinden und das Wrack zu erreichen. Die beiden Dänen sind schnell geborgen, aber in Sicherheit sind die Männer damit noch lange nicht. 30 Meter vom Strand entfernt erwischt sie ein mächtiger Brecher, drei Seenotretter gehen über Bord, Jantzen hält einen fest, mit der Kraft der Verzweiflung. Dann kracht das Boot im Wellental erneut auf den Grund und kentert. Die Männer landen im Wasser, klammern sich an ihr Boot, das gerade noch genug Auftrieb hat. Der nächste große Brecher wirft Retter und Gerettete an den Strand. Jantzen muss nach Hause getragen werden. Vor Erschöpfung kann er sich nicht mehr auf den Beinen halten.

Diese Geschichte, überliefert von Zeitzeugen, spielt wenige Jahre nachdem die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet wurde. Stephan Jantzen, Jahrgang 1827, ist wie viele Pioniere der Seenotrettung selbst lange zur See gefahren. Er kennt das Meer und seine Tücken und hat schon genug erlebt, um auch in heiklen Situationen nicht in Panik zu verfallen. Mit knapp 40 ist er vom Rostocker Rat zum Lotsenkommandeur gewählt worden und hat sein eigenes Schiff verkauft. Zusätzlich übernimmt er die Leitung des neuen DGzRS-Postens in Warnemünde. Ehrenamtlich, versteht sich. Als Seemann weiß er nur zu gut, dass es auf einem Schiff Notlagen gibt, in denen man ohne Hilfe von außen keine Chance hat. Zwischen Leben und Tod steht dann nur noch der Retter, der sich vom Strand hinauswagt in den Sturm.

Dass sich überhaupt jemand sorgt, ist zu diesem Zeitpunkt eine neue Errungenschaft. Bis ins 19. Jahrhundert regierte auf See allein der Fatalismus: Das Meer ist, wie es ist. Es holt sich, wen es will. Gottes Fügung, Gottes Fluch. Was soll der Mensch schon ausrichten gegen die Gewalten, die ein Sturm entfesseln kann? So denken die Seefahrer, so denken die Menschen an den Küsten.

Die Schicksalsergebenheit hat aber noch eine andere, eine dunkle Seite: Was die Brecher an Land werfen, gehört dem Finder, so steht es im Strandrecht. Küstenbewohner sind daher nicht unbedingt motiviert – um es vorsichtig zu formulieren –, Seeleuten in Not zu helfen. Sie sehen Strandgut als gerechten Ausgleich für den Schaden, den das Meer anrichtet. »Gott segne unseren Strand« lautet ihr zynisches Stoßgebet.

Bis am 10. September 1860 vor Borkum die ALLIANCE auf Grund läuft.

Es ist nicht der heftigste Sturm, eher ein scharfer Wind aus Nordwest, aber der Kohlenfrachter aus England ist ein altes Schiff, und der Crew gelingt es nicht, sich von den Untiefen vor Borkum freizukreuzen. Die ALLIANCE kracht auf die große Sandbank, die der Insel vorgelagert ist, und sitzt fest. Neun Männer sind an Bord, sie flüchten sich in die Takelage des Schiffs. Melkerinnen, die schon früh draußen bei den Kühen sind, hören ihre Hilferufe. Die Insulaner versammeln sich am Strand, wo ein Badegast, selbst Kapitän, versucht, Hilfe zu organisieren. Ohne Erfolg, niemand will mit dem eigenen Boot raus in die Brandung. Weil sie das Risiko scheuen? Oder, wie ein Reporter der Weser-Zeitung später schreibt, weil sie sich Hoffnung auf reiche Beute machen? Wie zum Volksfest seien die Insulaner zum Strand gezogen. Als die Leichen der britischen Seeleute angespült werden, würdigt man sie angeblich keines Blickes.

Die Kunde von dem Unglück vor Borkum und der Reaktion der Inselbewohner sorgt im aufgeklärten Bürgertum Norddeutschlands für Empörung. Es ist das erste Mal, dass Protest laut wird gegen die Schicksalsergebenheit zur See. Es ist das erste Mal, dass sich die Vertreter der humanistischen Idee mit dem Thema Seenot befassen. Vielleicht ist es wirklich nicht viel, was der Mensch ausrichten kann in einer solchen Situation. Doch darf er eine solche Katastrophe einfach hinnehmen? Muss er nicht eingreifen, wo er kann? Diese Fragen stehen im Raum, und eine Erkenntnis, die heute eine Selbstverständlichkeit ist, setzt sich durch: Wo Menschen in Not sind, rücken Helfer an.

Es gibt andere Beispiele aus dieser Zeit. Das Rote Kreuz? 1863 gegründet. Der Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant wird Zeuge, wie bei der Schlacht von Solferino Tausende Soldaten schwere Verletzungen erleiden. Er baut eine neutrale Truppe von Sanitätern auf. Der Arbeiter-Samariter-Bund? Eine Idee von sechs Berliner Zimmerleuten, die 1888 den ersten Kursus über Erste Hilfe bei Arbeitsunfällen veranstalten. Die Wasserrettung der DLRG? Gibt es erst seit 1913, als auf der Insel Rügen ein Steg einbricht und 17 Menschen ertrinken.

Für den Bremer Adolph Bermpohl bedeutet die Schilderung vom Untergang der ALLIANCE eine Zäsur in seinem Leben. Er ist selbst zur See gefahren, als Steuermann auf Großseglern, und hat an Land einen Posten als Navigationslehrer übernommen. Zusammen mit dem Anwalt Carl Kuhlmay beginnt er, für die Einrichtung eines Rettungswerks an den deutschen Küsten zu trommeln. Zivilisierte Seefahrtnationen wie die Niederlande und Großbritannien, schreibt er in seinen Artikeln für die Bremer Presse, hätten sich schon längst an den Aufbau von Rettungsstationen gemacht.

1824 haben die Engländer ihre National Institution for the Preservation of Life from Shipwreck gegründet, bei den Niederländern nimmt im gleichen Jahr die Noord- en Zuid-Hollandsche Redding-­Maatschappij ihre Arbeit auf. In beiden Fällen ist es nicht der Staat, der die Initiative ergreift. Es ist das Werk engagierter Privatleute. Auch Bermpohl und seine Mitstreiter wenden sich gar nicht erst an die Institutionen, sondern gleich an die Kaufleute und Reeder in ihrer Stadt – und eben auch an alle Bürger. Nicht nur, weil sie der Politik misstrauen. Sie folgen einem Gedanken, der das deutsche Rettungswerk bis heute leitet: Nur wenn das Vorhaben von der gesamten Bevölkerung getragen wird, nur dann, wenn es von allen verstanden und unterstützt wird, kann es gelingen. Ohne die Solidarität der vielen gibt es keinen Mut der wenigen.

Es wird Zeit: 76 Schiffe gehen in den Jahren von 1854 bis 1861 allein vor der Küste Ostfrieslands verloren. Für Georg Breusing, Zollinspektor in Emden, ist das ein untragbarer Zustand; er will nicht warten, bis es eine Lösung für die gesamte Küste gibt. 1861 gründet er seinen Verein zur Rettung Schiffbrüchiger, beginnt mit dem Bau von Stationen auf Langeoog, Juist, Norderney und Baltrum. Hamburg und Bremerhaven folgen noch im selben Jahr mit eigenen Rettungsvereinen für Elbmündung und Unterweser, Bremen zwei Jahre später. Zu den frühen Aktivisten Bermpohl, Kuhlmay und Breusing stößt der Chefredakteur des Bremer Handelsblatts, Arwed Emminghaus. Unter seiner geschickten Vermittlung vereinigen sich die regionalen Initiativen 1865 zur Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.

Durch Spenden geht der Aufbau der Stationen schnell voran: Sieben Jahre später verfügt das Rettungswerk bereits über 66 Stationen, von Borkum an der Grenze zu den Niederlanden bis zum kurischen Nimmersatt im heutigen Litauen. 29 Stationen sind mit Ruderbooten ausgestattet, 20 Stationen mit Leinenschussgeräten, und an weiteren 17 Stützpunkten steht sogar beides bereit – Boot und Leinenmörser.

So ist die Lage, als Vormann Jantzen gegen die Brandung kämpft, um Seeleute vor dem sicheren Tod zu retten. Offene Boote, gut acht Meter lang, aus Stahlblech und robust, doch auch knapp eine Tonne schwer; die Station ist ein Schuppen, in dem der Wagen mit dem Rettungsboot steht. Sechs Pferde werden gebraucht, um den Kahn so nahe wie möglich an die Unglücksstelle zu bringen. Über einen Kippmechanismus rutscht das Boot ins Wasser, und dann geht es los.

Es schreibt sich so leicht, und als Leser macht man sich heute keine Vorstellung davon, was es bedeutet, in einem offenen Kahn im Sturm hinaus auf die tobende See zu rudern. Nur auf die eigene Muskelkraft zu vertrauen und sich gegen die Wucht der Wellen zu stemmen. Die Vordenker um Bermpohl hatten wohl die richtige Idee, als sie auf Freiwillige setzten. Denn was den Rettern der ersten Stunde abverlangt wurde, konnte man mit keinem Sold der Welt bezahlen. Freiwillige bringen eben freien Willen mit, und der macht den Unterschied, dieser unbedingte Wille zu helfen. Wenn der Notruf kommt, machen sich die Männer von der „Gesellschaft“ auf den Weg, egal wie widrig die Umstände auch sein mögen.

In den ersten Jahrzehnten, von 1865 bis 1900, retten sie 2792 Menschen. Mit den bloßen Händen, so kann man das sagen.

Zeitsprung ins 21. Jahrhundert

Das Schiff der DGzRS im Hafen von Helgoland misst vom Vorsteven bis zum Heck 46 Meter. Drei Propeller und insgesamt 6800 kW beschleunigen die HERMANN MARWEDE auf bis zu 25 Knoten, wenn es schnell gehen muss; sie gilt als der größte und leistungsfähigste Rettungskreuzer der Welt. Ihr Bordhospital ist mit allem ausgerüstet, was ein Notarzt braucht, und wenn es der Einsatz erfordert, kann zusätzliches medizinisches Personal eingeflogen werden – die MARWEDE hat einen Landeplatz für einen Hubschrauber. Zur Crew an Bord gehören 15 Mann, Nautiker und Techniker, sie sind jederzeit einsatzbereit.

Auf Kontrollfahrt.Die Krankenstation ist bestens ausgerüstet.Der nächste Einsatz wird besprochen.Es geht los…..Mit dem Tochterboot wird ein verunglückter „aufgefischt“.Drei kräftige MTU-Motoren beschleunigen das Schiff auf bis zu 25 kn.Immer bereit für den nächsten Einsatz: Die Überlebensanzüge der Seenotretter.Sportgeräte auf der HERMANN MARWEDE.

Die MARWEDE hält an einer Kreuzung von wichtigen Seewegen die Stellung: Aus Elbe, Weser und Jade läuft der Verkehr in der Deutschen Bucht zusammen, es gibt nur wenige Seegebiete auf der Welt, wo auf engstem Raum so viele Schiffe unterwegs sind. „Seenot“ reicht als Begriff nicht mehr aus für das, was der Kreuzer zu leisten hat; von „Großschadenslage“ spricht die DGzRS in ihrer eigenen Beschreibung des Einsatzspektrums. Eine Lage, wie 1998 bei der Havarie der PALLAS zum Beispiel: Der Frachter, mit einer Ladung Holz auf dem Weg von Schweden nach Casablanca, war 1998 im Sturm in Brand geraten. Die Crew hatte das Feuer nicht unter Kontrolle bekommen, das Schiff lief vor der nordfriesischen Insel Amrum auf Grund, Treibstoff lief aus und verseuchte die Strände im Nationalpark Wattenmeer. Seenot bringt heute nicht mehr nur die Mannschaft an Bord in Gefahr, die Retter müssen auch Havaristen abschleppen können, Brände bekämpfen, große Hilfseinsätze auf See koordinieren, Umweltkatastrophen verhindern.

Eigentlich, denkt man, müsste doch auch die Seefahrt sicherer geworden sein seit den Tagen von Vormann Jantzen. Die Frachter unserer Zeit sind Giganten aus Stahl, mit Maschinen so groß wie Reihenhäuser, dank satellitengestützter Navigation weiß der Kapitän jederzeit auf den Meter genau, wo sich sein Schiff befindet. Was soll auf See noch schiefgehen?

Alles. Früher traten die Seefahrer die Verantwortung an höhere Mächte ab, heute vertrauen sie auf die Technik. Nur: Wenn die vielen Aggregate nicht gewartet werden, wenn gespart wird an Unterhalt oder Mannschaft, wenn es einfach schlecht läuft, ist auch der Seemann von heute Gewalten ausgeliefert, denen nicht einmal Stahl auf Dauer widerstehen kann. Ist das den modernen Seefahrern noch bewusst? Klar, vieles geht heute auf Knopfdruck, was auf Rahseglern noch lebensgefährliche Knochenarbeit bedeutete. Doch das Grundproblem aller Seefahrt bleibt: Unterwegs ist die Crew auf sich gestellt, sie muss mit jeder Situation allein fertigwerden, und eine lebensfeindlichere Umgebung als das Meer im Sturm gibt es für den Menschen auf dem Planeten nicht.

Noch etwas hat sich in den vergangenen 150 Jahren verändert. Als Stephan Jantzen die Rettungsstation von Warnemünde übernahm, fuhr niemand zum Spaß auf die See hinaus, Nord- und Ostsee waren Verkehrswege der Schifffahrt und Jagdgründe der Fischer, mehr nicht. Sicher, es gab erste Badeanstalten; auf Sylt und in Büsum, in Binz und Travemünde plantschte das Bürgertum im Salzwasser. Aber wer hätte damals ahnen können, dass die See einmal Spielplatz für Millionen werden würde? Dass Wassersport eine Bewegung der Massen sein könnte? Ein Brett, ein Segel, Neoprenanzug – für Jantzens Zeitgenossen undenkbar, sich so auf See hinauszuwagen.

Für uns ist es heute ein gewohnter Anblick, genauso wie die Freizeitskipper in ihren Motorbooten oder Segeljachten, wie Kajakfahrer und Kiter. Doch selbst wenn alle ihren Sport umsichtig betreiben, auf Wetter und Tide achten würden, sorgt schon die schiere Zahl an Menschen auf dem Wasser dafür, dass die Seenotretter immer häufiger ausrücken müssen. Denn irgendetwas geht immer schief. Nicht die Berufsschifffahrt verlangt die häufigsten Einsätze, es sind vor allem die vielen Wassersportler, die in Not geraten. Kurzer Auszug aus dem Jahrbuch der Seenotretter gefällig?

„Angler in Lebensgefahr auf der Ostsee“; seine Wathose ist vollgelaufen. „Drei Kinder mit Vergiftung auf Segeljacht“; sie haben ein Medikament gegen Seekrankheit nicht vertragen. „Ehepaar aus gefährlicher Brandung befreit“; die beiden sind mit ihrer Jacht auf einer Sandbank aufgelaufen. „Hobbykutter sinkt im Wattenmeer“; die Crew bekommt ein Leck nicht abgedichtet.

Viele Wassersportler verstehen die Gesellschaft als eine Art ADAC zur See. Bei Problemen anrufen, es gibt sogar eine Kurzwahl fürs Handy, 124 124, wie praktisch, schon landet man bei der Leitzentrale in Bremen. Nur hat das Meer keine Ausfahrt, es gibt keinen Standstreifen. Aussteigen und neben dem Boot warten – leider keine Option. Eine Panne, selbst die kleinste, kann auf See schnell zur existenziellen Bedrohung werden. Und das ist genau das Dilemma: So dicht der Verkehr heute auch ist, so viele Menschen auf Nord- und Ostsee auch unterwegs sind – es ist verdammt leer da draußen, häufig niemand in Sicht, den man schnell herauswinken oder per Funk erreichen kann. Und die Crew eines Containerfrachters tut sich schwer, einer Jacht zu helfen, die im Wattenmeer auf den Sand gefahren ist. Hilfe von außen – das sind die Leute von der DGzRS.

Sie hat ihre Kreuzer und Rettungsboote strategisch so positioniert, dass sie jeden Punkt an der deutschen Küste binnen einer Stunde erreichen können. 2091 Einsätze sind die Retter im Jahr vor Erscheinen dieses Buches gefahren, davon 177 bei einer Windstärke von sieben Beaufort und mehr. 55 Menschen wurden aus akuter Seenot gerettet, 483 aus Gefahr befreit, 63 Schiffe vor dem Totalverlust bewahrt, 400 Kranke oder Verletzte von Inseln oder Schiffen aufs Festland transportiert.

Auch das schreibt sich so leicht: 177 Einsätze bei Starkwind oder Sturm. Die deutschen Seenotretter haben es zu ihrem Motto gemacht: Wir fahren raus, wenn alle anderen reinkommen. Die Fotos in der Spendenwerbung sind oft spektakulär: haushohe Wellen, fliegende Gischt, und dann der Kreuzer, der in Alarmfahrt zum Einsatz rauscht. Nur gehört zur Wahrheit leider auch, dass es viel zu oft Momente gibt, die nicht für Hochglanzbilder taugen. Auch die Retter geraten an ihre Grenzen, und in der Geschichte der Gesellschaft haben sie nicht selten um das eigene Überleben kämpfen müssen. Ihre Kreuzer sind die besten, die man für ihren gefährlichen Auftrag bauen kann, selbst eine Kenterung überstehen sie. Aber was geschieht dabei mit der Crew?

Gleich mehrere Geschichten in diesem Buch befassen sich mit den Fällen, die tragisch endeten: 1967 wird die ADOLPH BERMPOHL im Sturm vor Helgoland umgeworfen. Der Kreuzer wird später gefunden, mit laufender, ausgekuppelter Maschine; von der Crew keine Spur. 1995 kentert die ALFRED KRUPP auf der Rückfahrt von einem Einsatz westlich von Borkum. Das Schiff richtet sich auf, wie es soll, doch Vormann und Maschinist werden von Bord gerissen.

45 Männer hat die DGzRS seit ihrer Gründung verloren.

Mehr als 81 000 Menschen haben die Leute von der Gesellschaft gerettet, auch das eine unglaubliche Zahl, mehr als 81 000 Mal die Bestätigung, dass Bermpohl und die vielen anderen recht hatten, die sich für den Aufbau einer Seenotrettung eingesetzt hatten: Wir können doch etwas ausrichten. Wir sind der See nicht ausgeliefert, weil wir uns gegenseitig helfen. Unser stärkstes Argument in der Auseinandersetzung mit den Elementen ist die Solidarität.

"Mayday" Buchcover.
„Mayday“ Buchcover. © Verlag

Die Seenotretter von der DGzRS können ihre Arbeit machen, weil sie sich auf die Unterstützung aus der Bevölkerung verlassen können. Was die Gesellschaft zum Erhalt ihrer Stationen und ihrer Flotte braucht, und das sind mehr als 30 Millionen Euro im Jahr, finanziert sie aus Spenden und Schenkungen. Sie agiert vollkommen unabhängig von der politischen Großwetterlage und den Zwängen, denen öffentliche Haushalte unterworfen sind. Als Schirmherr des Rettungswerks fungiert zwar der Bundespräsident, als Dank und Anerkennung dafür, dass die Gesellschaft der Retter eine hoheitliche Aufgabe erfüllt. Aber sie lässt sich nicht hineinreden, wie sie diese Aufgabe erfüllt. Es zählt allein das Ziel – Menschen aus Seenot zu retten.

 

Wir sind klar zum Einsatz, sagen sie bei der Gesellschaft.

Gut zu wissen.

Mit freundlicher Genehmigung des Ankerherz-Verlags

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