Sicherheitsvorschriften müssen aktualisiert werden
Versicherer warnen seit Jahren, dass die zunehmende Größe von Schiffen zu einer höheren Risikokonzentration führt, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Diese Befürchtungen bewahrheiten sich nun: Die MS EVER GIVEN hat den Suezkanal für mehrere Tage blockiert. Glücklicherweise konnte das riesige Schiff wieder flott gemacht werden. Gleichwohl werden die globale Schifffahrtslogistik und die Lieferketten die Auswirkungen wahrscheinlich noch wochenlang zu spüren bekommen.
Rahul Khanna, Global Head of Marine Risk Consulting bei Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) analysiert, welche Lehren aus diesem Vorfall gezogen werden können.
AGCS ist nach eigener Aussage der führende internationale Industrieversicherer für Unternehmens- und Spezialrisiken am deutschen Markt. Zum Produktportfolio gehören auch Versicherungslösungen für den privaten und gewerblichen Bereich von Luft- und Seefahrt.
Gibt es bereits mehr Klarheit darüber, was die Ursache für das Auflaufen der MS EVER GIVEN im Suez-Kanal war?
Dies muss noch untersucht werden. In den meisten Berichten heißt es, dass das Schiff auf Grund gelaufen ist, nachdem es in starke Winde und einen Sandsturm geraten war, die schlechte Sicht verursachten und die Navigation erschwerten. Allerdings können auch menschliches Versagen oder ein Maschinenausfall zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.
Wind kann für voll beladene, ultragroße Containerschiffe Probleme verursachen, da die Höhe der Containerstapel im Vergleich zu anderen Schiffstypen eine große „Windangriffsfläche“ bietet. Seitenwinde können leicht zu kleinen Kursabweichungen eines Schiffes führen, was in einer relativ engen Wasserstraße zu Schwierigkeiten führen kann. Je größer das Schiff ist, desto geringer ist der Spielraum für Fehler. Auch der „Ufereffekt“ könnte bei der Grundberührung eine Rolle gespielt haben – dabei erfährt ein großes Schiff typischerweise eine Sogwirkung in Richtung der Ufer eines engen Kanals.
Wir müssen jedoch die Ergebnisse der offiziellen Untersuchung abwarten, um die Ursache für diesen Vorfall zu ermitteln. Die meisten modernen Handelsschiffe führen einen „Voyage Data Recorder“ mit sich. Die darüber gewonnenen Informationen werden entscheidend sein, um zu verstehen, welche Faktoren zu diesem Vorfall geführt haben und was wir in Zukunft tun können, um eine Wiederholung zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt ist es wichtig, nicht über die Ursache zu spekulieren.
Was sind die Risiken, die mit der zunehmenden Schiffsgröße einhergehen?
Solche Schiffe bringen den Schiffseignern Größenvorteile, aber die Kehrseite sind unverhältnismäßig höhere Kosten, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Die Bewältigung von Vorfällen mit großen Schiffen – das können Brände, Grundberührungen und Kollisionen sein – wird immer komplexer und teurer.
Das Stapeln von Containern auf Mega-Schiffen macht sie anfälliger für starke Winde. Schlimmstenfalls kann Ladung bei schlechtem Wetter verloren gehen, wie einige Vorfälle zuletzt demonstriert haben: Mindestens fünf ultragroße Containerschiffe haben während der letzten Wintersturmsaison im Pazifik Container verloren. Brände an Bord großer Containerschiffe sind mittlerweile an der Tagesordnung und können schnell zu hohen Schadenssummen in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar führen.
Die Bergung ist eine weitere Herausforderung: Die Bergungsteams brauchten fast eine Woche, um die MS EVER GIVEN wieder flottzumachen, aber andere Bergungsaktionen mit großen Schiffen haben viel länger gedauert. Die Größe des Schiffes erhöht die Kosten für die Bergung und die Havariekosten erheblich. Megaschiffe benötigen spezielle Schlepper, um wieder flott gemacht zu werden, und es kann schwierig sein, einen Nothafen zu finden, der die Kapazität hat, ein so großes Schiff aufzunehmen. Schon seit einiger Zeit warnen Vertreter der Bergungsbranche davor, dass Containerschiffe zu groß werden, um kritische Situationen zügig und wirtschaftlich zu bewältigen.
Ist der Vorfall im Suezkanal ein Weckruf für die Branche? Wie können Risikomanagement und Sicherheit verbessert werden?
Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass eine Wasserstraße wie der Suezkanal insgesamt eine gute Sicherheitsbilanz aufweist. Rund 19.000 Schiffe fahren jedes Jahr durch diese Wasserstraße und in den letzten zehn Jahren gab es im Durchschnitt nur acht Zwischenfälle pro Jahr.
Wichtig ist auch, dass die Schifffahrtsindustrie in den letzten zehn Jahren ihre langfristige Sicherheitsbilanz deutlich verbessert hat. Dazu haben viele Faktoren beigetragen, unter anderem die Weiterentwicklung der Schiffskonstruktion und -technologie, eine verschärfte Regulierung, Fortschritte im Risikomanagement und natürlich auch robustere Sicherheitsmanagementsysteme und -verfahren an Bord der Schiffe.
Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass dieser Vorfall zu künftigen Lehren führen wird. 24.000-TEU-Containerschiffe sind jetzt auf den Meeren unterwegs. Die Versicherungsbranche hat die Entwicklung der Schifffahrtsindustrie immer unterstützt, vorausgesetzt, die Reeder berücksichtigen die Risiken, die mit jeder Vergrößerung einhergehen.
Wir müssen uns genauer ansehen, wie wir die Risiken von Megaschiffen minimieren können, insbesondere in Häfen oder in Engpasspassagen wie dem Suezkanal oder dem Panamakanal. Wenn ein Schiff in einer dieser Wasserstraßen auf Grund läuft, werden spezialisierte Schlepper benötigt, und der Hafen und die Kanäle sollten in relativ kurzer Zeit Zugang zu angemessenen Ressourcen bereitstellen können. Auch mit den Lotsendiensten in solchen Wasserstraßen sollte man sich genauer beschäftigen. So kann es beispielsweise sinnvoll sein, die Einfahrt von Megaschiffen in sehr enge Kanalabschnitte abhängig von bestimmten Wetterbedingungen zusätzlich zu beschränken. Deshalb ist es so wichtig, dass der Voyage Data Recorder untersucht wird, damit wir verstehen können, was die Ursache für diesen Vorfall war; erst dann können wir konkret vorschlagen, wie wir ihn in Zukunft am besten verhindern können.
Natürlich gibt es für Megaschiffe noch andere Risiken als Grundberührungen. Versicherer wie die Allianz und die International Union of Marine Insurance (IUMI) warnen seit langem vor Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit Bränden auf großen Containerschiffen und setzen sich für eine verbesserte Schiffskonstruktion und Feuerlöschausrüstung ein. Es sollte Industriestandard sein, dass jedes Schiff aufgrund seiner Konstruktion und Ausstattung in der Lage ist, die meisten Brände an Bord selbst zu bekämpfen. Offensichtlich ist dies derzeit noch nicht die Regel. Als Teil einer Arbeitsgruppe mit der IUMI haben wir der International Maritime Organization eine Liste von Empfehlungen vorgelegt, von denen wir hoffen, dass sie zu einer Änderung der Vorschriften führen und so die Brandbekämpfungsmöglichkeiten an Bord verbessert werden.
Wird es teurer oder gar unmöglich werden, Megaschiffe zu versichern?
Als Schifffahrtsversicherer wollen wir die Branche und ihr Wachstum unterstützen. Wie bereits erwähnt, haben wir nichts dagegen, dass die Schiffe größer werden, aber all die zusätzlichen Aspekte, die mit diesem Größenzuwachs einhergehen, müssen aus Sicht des Risikomanagements berücksichtigt werden. Viele Jahre lang haben die Vorschriften nicht mit dem Wachstum der Schiffe Schritt gehalten, und eine Modernisierung der Vorschriften ist dringend notwendig, um die Nachhaltigkeit und Sicherheit von Containerschiffen zu gewährleisten. Wir erwarten von der Schifffahrtsbranche, dass sie die Vorschriften für einen sicheren Betrieb an Bord einhält und kontinuierlich an der Verbesserung der Sicherheit arbeitet. Die Coronavirus-Pandemie übt weiteren Druck auf die Wartungszyklen aus und die Margen stehen unter Druck, aber wir sollten keine Kompromisse bei den Sicherheitsstandards eingehen. Wir alle dürfen nicht müde werden, innovativ zu denken.